vorheriges werk nächstes werk



sieben Sachen und eine Gegebenheit

 

für Bratsche und noch sieben

  2001  

Besetzung: SoloVa – Kl.Tr – Sampler.

Sz – Vn.Vc.Kb +Tontechnik [DETAILS]

   ~17'

 

text

 

Man kann mitten in der heftigsten Bewegung sein, aber plötzlich fällt das Auge auf das Spiel irgendeines Dings, das Gott und die Welt verlassen haben, und man kann sich nicht mehr von ihm losreißen?! Mit einemmal wird man von seinem kleinwenigen Sein wie eine Feder getragen, die aller Schwere und Kräfte bar im Wind fliegt?! …

… Es ist dem ähnlich, daß man auf eine große spiegelnde Wasserfläche hinausschaut: das Auge glaubt Dunkel zu erblicken, so hell ist alles, und jenseits am Ufer scheinen die Dinge nicht auf der Erde zu stehn, sondern schweben in der Luft mit einer zarten Überdeutlichkeit, die beinahe schmerzt und verwirrt. Es ist ebensowohl eine Steigerung wie ein Verlieren in diesem Eindruck. Man ist mit allem verbunden und kann an nichts heran. Du stehst hüben und die Welt drüben, überichhaft und übergegenständlich, aber beide fast schmerzhaft deutlich, und was die sonst Vermengten trennt und verbindet, ist ein dunkles Blinken, ein Überströmen und Auslöschen, ein Aus- und Einschwingen. Ihr schwimmt wie der Fisch im Wasser oder der Vogel in der Luft, aber es ist kein Ufer da und kein Ast und nichts als dieses Schwimmen!

aus Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

 

 

Christian Thorau — Auszug aus

(2005):

 

Aus der Beschäftigung mit der buddhistischen Weltanschauung und der Suche nach einer neuen Klarheit der Form ging das Konzept einer Bilderreihe von sieben "Verhaftungen an die Welt" hervor. Es handelt sich um rhapsodische Charakterstücke im Concerto-Gestus, die sich in einer inneren Dramaturgie aus der "Leichtherzigkeit" über die fast szenischen Porträts der "Angst vor der Einsamkeit" und der "Kampfeslust" bis in die "Zerstreutheit" steigern, der verführerischen Begleiterin der medialen Sinneswelt.

Die digitale Signatur der Klangproduktion setzt sich in diesem Werk bis ins Instrumentarium fort. Der Sampler wird zum Ensembleinstrument, man könnte fast sagen zum Hightech-Continuo des Orchestersatzes. Nicht nur, dass er in "Von der Leichtherzigkeit" einen geradezu thematischen Beat generiert. Im siebenten Satz "Von der Zerstreutheit" spuckt er Samples aus allen vorangegangenen Sätzen aus, wobei die Akkordschläge des Ensembles wie der Umschalter einer Fernbedienung funktionieren. Die Bratsche allerdings hält sich aus diesen bits-and-bites heraus und zeigt mit einem langen Halteton und der Vorausnahme der abschließenden Rede den Weg aus der Zapping-Struktur. Auch dieser "Eine Rede" überschriebene Finalsatz lässt als groß angelegtes instrumentales Rezitativ Bezüge zur barocken Musiksprache erkennen. Winkler entwickelte ein Prinzip, das gesprochene Sprache in einem mehrschrittigen Verfahren in Musik transformiert. Eine gelesene Fassung der Passagen aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften wurde zunächst metrisch und intervallisch so genau wie möglich transkribiert und dann auf nicht oktavbezogene Skalen gespreizt. Diese bilden wiederum die Grundlage für die Generierung der Harmonik, die das Ensemble der Rede des Soloinstrumentes mixturartig unterlegt. Musils Text selbst ist eine grandiose und feinsinnige Beschreibung eines Zustandes der Loslösung. Er wird paradoxerweise initiiert durch weltentrückende Konzentration auf ein Ding des Daseins.

 

 

 

"Stephan Winkler’s Vom Durst nach Dasein was among the evening’s strongest pieces."

Steve Smith, NYT logo, 12.11.2007