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zur nacht

für großes Orchester mit Kinderchor

unter Verwendung des Gedichtes mühle, lass die arme still... von Stefan George

  1992   Besetzung: 4.3.4.3 – 4.3.3.1 – Hrf.Pf.Pk.3Sz – Kinderchor(2stimm.) – Str (13.13.7.7.5) [BESONDERHEITEN]
  ~13’

 

text

 

  Stefan George: mühle lass die arme still...
 

Stefan George (Pilgerfahrten, 1891)

St. George: Werke — Ausgabe in zwei Bänden. — Stuttgart: Klett-Cotta, 1984

 

 

Habakuk Traber: Programmhefttext zur Uraufführung (1993)

 

 

Stephan Winkler hat diese Verse in seiner Komposition zur nacht verwendet. Mitten im Stück singt sie ein Kinderchor. Sie stammen aus einem der frühesten Gedichtzyklen Stefan Georges, dem Kollegen und Freund Hugo von Hoffmannsthal "in Gedenken an die Tage schöner Begeisterung" gewidmet.

 

"Das ausgehende 19. Jahrhundert war eine geschichtstrunkene Zeit", schreibt Werner Vordtriede. "Davon ist bei Stefan George wenig zu spüren (…) Auch diejenigen Gedichte, die, wie eine Ballade hinter Schleiern, eine Handlung andeuten, erzählen die Geschichte nicht. Sie wird nur angedeutet, der Leser muss sie erschließen, wie etwa in 'Mühle lass die arme still' (Pilgerfahrten), einem von Georges Meisterwerken. Kleine Mädchen laufen nach der ersten Kommunion auf dem schon brüchigen Eis und ertrinken. Das ist nur zu erschließen aus der unheimlichen Stille der Heidelandschaft, dem Tauwind und der ungeheuren rhythmischen Beschleunigung der drei Strophen. Also andeuten statt zu benennen. Diese Technik des Indirekten konnte George von Baudelaire und den französischen Symbolisten lernen." Sie kommt der Musik entgegen, der Kunst, die solche Bilder in der Schwebe verharren lässt.

 

Stephan Winklers Komposition spürt der Idee des Gedichtes sensibel nach. Er hat es sparsam, transparent in Töne gesetzt. Aus dem Orchester sind nur die Violen mit ihrem warmen und gedeckten Ton beteiligt. Der Kinderchor kehrt aus der Aufspaltung in die Zweistimmigkeit immer wieder ins unisono zurück. Die Aussparung einzelner Silben in einer Stimme wirkt, als dränge der gleiche Gesang in verschiedenen Wellen, gebrochen durch weite Entfernung, ans Ohr. Die Instrumente laufen oft mit den Sängern mit, färben deren Töne, lassen sie weiterklingen, vermitteln die Übergänge. Erst zur Zeile "DIE schon bei dem naherflehten" schlägt die innere Qualität der Temposteigerung, mit der die Musik der Tendenz des Gedichts folgt, in äußere Bewegung um, in eine rasche, akzentlos durchlaufende Figur der ersten Bratsche. Sie wird nach dem Ende des Gesangs aufs ganze Orchester projiziert und ins Grandiose gesteigert. Dieses ff-Klangfeld aus gleich schnellen, aber unterschiedlich periodisierten Bewegungen steigert sich für eine Minute ins Apokalyptische — und bricht ab. Nach zwei fast Mahlerschen Hammerschlägen macht es einer Fläche teils polyphonen, teils pointillistischen Charakters Platz. Der Ton weicht allmählich dem Geräusch, übrig bleibt die abstrakte Textur mit einigen Motivbrocken — Reminiszenzen ans Gewesene; die Musik löst sich auf, ehe sie sich ein letztes Mal zum Gestus eines Schlusspunkts sammelt.

 

zur nacht ist sehr imaginative Musik, von Anfang an. Das Stück beginnt aus vollkommener Lautlosigkeit, hörend ist nicht zu definieren, wann es aus der Stille tritt. Drei scharfe Akzente, dann Felder vielstimmiger Polyphonie; wispernde Klangflächen im zartesten pianissimo wechseln mit Pausen: so klingt beredte Stille. Sie verlangt einen Orchesterklang am Rande der Wahrnehmbarkeit — schwer zu machen. Ereignisse, die einen bestimmten Sinn durch das gesungene Gedicht erhalten, kündigen sich lange vorher an. In Mäandern, die sich aus einem polyphonen Feld erst in den Oboen abheben, dann in die Streicher übergehen, sind die Figuren vorgeprägt, die sich später zum apokalyptischen Klang steigern. Harte fortissimo-Einwürfe nehmen die Hammerschläge vorweg. Begleitfiguren zu einer Flötenkantilene skizzieren flüchtig den Balladenton, der später dem Gesang verweigert wird, von ihnen bleibt die Hervorhebung des metrischen Pulses. Zwischen Abschnitte vielstimmiger Polyphonie schiebt sich ein Klangfeld, in dem jeder Ton nur in einer bestimmten Lage vorkommt; die Tonhöhen sind durch eine in sich symmetrische Reihe geregelt — ein statisches Gebilde trotz aller inneren Unruhe. Es erscheint zweimal: zunächst forte und in breiter Entfaltung; später, zum gesummten Einsatz des Kinderchores, piano "wie aus der Ferne". So komponiert das Werk Entsprechungen, Verrückungen, Verhältnisse von Nähe und Ferne, von Unmittelbarkeit und Verfremdung. Die "ein wenig opulente" Entwicklung großer Melodiebögen mit dazwischengeworfenen raschen Figuren reflektiert sich "angestrengt kantabel", bricht sich später in "bemüht opulentem" Gestus.

 

Dem Stück liegt eine klare Architektur zugrunde. Siebzehn verschiedene Abschnitte sind aus sieben unterschiedlichen Teilen und deren Verwandlungen zusammengefügt — Winkler hat ein Faible für Primzahlen. An seiner Komposition beeindruckt die Fähigkeit zu unmittelbarer Expressivität, der Sinn für Proportionen, für ihre Dehnung und Komprimierung, der souveräne Umgang mit dem Wechsel von Ereignissen und Stille (die Kultur der Pausen), die sichere Gestaltung der Zeit.

 

 

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