… Es zeichnet den Komponisten Stephan Winkler aus, dass er das Spannungsverhältnis zwischen dem kritischen Über-Ich der Kunstmusik und den Faszinationen der Gegenwartskultur zum kreativen Motor seiner künstlerischen Arbeit umformt. Die Vielseitigkeit seiner seit Ende der 80er Jahre entstandenen Musik ist erstaunlich. Stehen zunächst Werke der Ensemble- und Orchestermusik im Vordergrund, so wird seit Mitte der 1990er Jahre die Auseinandersetzung mit Formen der Popularkultur zu einem wichtigen Impulsgeber. Nur selten wurde die Technokultur so ernsthaft kompositorisch aufgegriffen wie in dem Projekt XenophoniX, ein großes Tanz- und Musikevent im Auftrag der Berliner Musikbiennale 1997, für das Winkler vier Stunden vorproduzierte Tracks mit der Aufführung einer Partitur für Kammerensemble kombinierte. Und das große Orchesterwerk comic strip (1998) transformierte die stampfenden Rhythmen elektronischer Tanzmusik in eine Sacre-Hommage von greller Farbigkeit. Die vorliegende CD präsentiert drei Werke, in denen die vielfältigen stilistischen Stränge von Winklers Musik in je unterschiedlicher Weise zusammenlaufen. In Gullinkambi aus den Jahren 1994/95, das sich systemtheoretischen und biologischen Inspirationsquellen verdankt, bildet die Komposition eine Art Biotop, in dem musikalische „Kreaturen“ aufeinander treffen und einen evolutionären Formprozess erzeugen. Vom Durst nach Dasein für Bratsche und Ensemble, enstanden 2000/01, ist ein Zyklus von sieben Charakterbildern der „Weltverhaftung“, kommentiert und distanziert durch eine abschließende musikalisierte Rede nach einem Text von Robert Musil. Die vorliegende Produktion der Partitur zigzag für sechs Saxophone schließlich überspringt die Mediengrenzen: das in Einzelspuren aufgenommene und dann am elektronischen Schnittpult erzeugte Sextett fügt sich mit den Bildern des Videokünstlers Jesko Marx zu einer in der Edition Zeitgenössische Musik bisher noch unbekannten Gattung: neue Musik für DVD.
Stephan Winkler nennt es eine längst überfällige Revolution in der neuen Musik: die Entdeckung der ‚post production’ als Teil der Arbeit des Komponisten. Mit der Nachbearbeitung des Klanges begibt er sich auf umstrittenes Terrain: in der Popmusik ein zentraler Bereich des Experiments und der Kreativität, in der Klassik-Produktion selbstverständlich, aber ins Unhörbare hinein perfektioniert, in der neuen Musik noch fast völlig ungenutzt. Die hier versammelten Stücke für Instrumentalensembles sind keine Dokumente von Konzertaufführungen, sie sind auch keine Studioaufnahmen, die dann dem Tonmeister zur Weiterverarbeitung überlassen werden. Stephan Winkler mischt die mit den Musikern getrennt aufgenommenen Spuren selbst ab und schneidet sie zu einem Klangkörper zusammen. Der Komponist wird zum Audioeditor seiner Werke, zum Dirigenten der Tonspuren und Tracks. Der neue Klang ist ohrenfällig und auf eine süchtig machende Weise paradox: eine distanzierte und doch unmittelbare Brillanz der Tongebung, absolute Präzision der Rhythmen und Zusammenklänge, glänzende Klangoberflächen bei noch hörbarer Rauheit der natürlichen Instrumente, geometrisch lineare, bogige, spiralige Crescendi und Decrescendi im Niemandsland zwischen elektronischem Fade out und natürlichem Diminuendo, Raumlosigkeit und doch ein eigener, künstlicher Raum,
Winkler beschreibt dieses Verfahren als „musikalische Verfilmung“ und meint damit die gestaltete Transposition einer Musik in das Medium der Wiedergabe (im Unterschied zur bloßen Dokumentation einer Konzertaufführung). Der Hinweis auf eine für das Fernsehen produzierten Theateraufführung, bei der wir die Abfilmung mit einer Standkamera in der Totalen als lächerlich empfinden würden, wiegt schwer. Er macht bewusst, wie selbstverständlich wir im Bereich der klassischen Musik (im Unterschied zum Pop) durch die CD ‚hindurch’ den reinen Klang einer perfekten Aufführung imaginieren, obwohl das Gros der Produktionen längst aus der Retorte stammt. Auf den freiwilligen Selbstbetrug dieses Purismus lässt sich Winkler nicht ein. Damit fällt ein zentrales Tabu der klassischen Musikproduktion: die Verformung und Anreicherung des natürlichen Klanges. Der Chimäre der Natürlichkeit (die nichts als implizite Künstlichkeit ist) setzt Winkler die Bearbeitung, Mischung und den Schnitt als explizite Formulierung entgegen. Die fälschliche, aber suggerierte und für die Interpreten manchmal leidvolle Identifizierung von Aufnahme und Aufführung ist hiermit aufgekündigt. Das Werk kann unterschiedliche, gleichermaßen gültige Erscheinungsweisen haben und die CD-Produktion nutzt die Möglichkeiten ihres Formats: das Medium wird hörbar.
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