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gullinkambi

für elf Blasinstrumente   1994/95   Besetzung: 2Fl.Ob.Eh.2Kl.2Hrn.3Fg(3.:Kfg)   ~11’

 

text

 

Prof. Else Gabriel — Auszug aus

(2005):

 

Anfang der 1990er waren Interesse und Begeisterung groß für Chaostheorie und Simulationsspiele wie SimLife, eine Weiterentwicklung des Game of Life von 1970. Der Spruch vom Schmetterlingsflügelschlag, der am anderen Ende der Welt einen Tsunami auslösen konnte, war in aller Munde. Die Möglichkeit, Muster hinter einem verschlungenen globalen Geschehen zu entdecken, nährte Phantasien in allen Gesellschaftsbereichen. Und wenn man schon mit Vorhersagen umfassender Vorgänge nicht weiterkam, so waren die Muster doch wenigstens Pop. Mit dem Computer Biotope in Gang zu setzen, die eine komplexe Eigendynamik aufweisen, war faszinierend und inspirierend für viele. Künstliche Welten und Roboter, die sich gegenseitig zur Entwicklung einer neuen Sprache bringen konnten, regten Musiker und auch bildende Künstler an, eigene Arbeiten auf der Grundlage der neuen technischen Möglichkeiten zu entwickeln. Je länger man dem allerdings lauschte oder zusah, desto beliebiger und kryptischer wurden die meisten Produkte. Die Zirkel der Eingeweihten steckten die Köpfe zusammen, tuschelten konspirativ und waren sich bald selbst genug auf den Festivals, Kongressen und Symposien. Stephan Winkler bezieht sich in einigen seiner Arbeiten, insbesondere in Gullinkambi, auf das Game of Life.

 

Gullinkambi ("Goldkamm") ist der Hahn, der mit seinem Schrei in der nordischen Mythologie den Beginn der Ragnarök, dem Untergang der bestehenden Welt und den letzten Kampf der Götter gegen die Weltfeinde ankündigt. Da stockt mir doch fast das Herz. Dass er den Titel maßgeblich deshalb wählte, um einen komponierten Hahnenschrei unterzubringen, lässt mich wieder durchatmen (die Titel sind ein Fall für sich). Winkler bezeichnet Gullinkambi als Biotopstück. Das menschliche Gehirn ist kein Organ zum Denken, sondern um Probleme zu lösen. Also stellt sich der Komponist Probleme, die er musikalisch zu lösen versucht. Er bevölkert z.B. einen "Lebensraum" mit musikalischen Spezies, die kalkuliert mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet und dann aufeinander los gelassen werden. Ab diesem Punkt agieren und reagieren die einzelnen Komponenten miteinander und es erweist sich, ob die Regeln und die Anlage der "Arten" nachhaltig waren und längerfristig in Bewegung bleiben, oder ob sich das System bald selbst lähmt und zu einem Stillstand kommt. Stillife – Stilleben hieße so ein Zustand auch sinnfällig im Game of Life. Stephan Winkler nimmt die mathematischen Möglichkeiten der Spiele ernst und als Methode, Musikstücke zu entwickeln, die bei aller Beschränkung der Mittel doch von großer Komplexität sind. Er bebildert keine trendige Populärwissenschaft. Er weiß, wann er den Rechner verlassen muß, zugunsten der Kunst. Er weiß auch, wann er die eingeschworenen Rituale und Grenzen der (neuen) ernsten Musik verlassen muß, zugunsten der Kunst. Seine DDR-Sozialisation hilft da nachhaltig, Funktionärs- und Kastenwesen, Besitzstandswahrung und Engstirnigkeit zu wittern, die sich immer auswirken auf die künstlerische Qualität. Die Musik, die Stephan Winkler entwirft, will, bei aller Bescheidenheit und mathematisch kristallinen Struktur, nichts weniger sein als ein prächtiges und opulentes Gemälde. Vielschichtigkeit hörbar und lebendig zu machen, und die Farbigkeit der Facetten herauszuarbeiten ist ein anspruchsvolles Ziel.

 

 

 

Prof. Dr. Christian Thorau — Auszug aus

:

 

In ihrem Buch Das Spiel betonten Manfred Eigen und Ruthild Winkler Mitte der 70er Jahre den Unterschied zwischen dem künstlich erzeugten Leben der Gentechnik und den künstlichen Lebewesen der Roboter-Wissenschaften. Klonschaf Dolly und die dynamische Entwicklung der AI-Forschung zeigen, dass diese Differenz auch heute keinen Deut an Brisanz verloren hat. In der symbolischen Welt der Kunst lassen sich diese Diskussionen vielfältig spiegeln, zumal im zeitbasierten und strukturzentrierten Zeichenmedium der Musik. Gullinkambi für elf Blasinstrumente, komponiert während eines Studienaufenthalts in Princeton 1994/95 und dem amerikanischen Komponistenvater Milton Babbitt gewidmet, entwirft ein Biotop aus musikalischen Charakteren, die der Komponist "Kreaturen" nennt, und lässt diese aufeinander reagieren. Diese Gebilde trugen während des Kompositionsprozesses so heterogene Arbeitstitel wie Regen, Akkordpuls, Trächtige Linie oder Gleiter. Letzterer spielte wohl auf eine Figur in dem berühmten "Life Game" von John Horton Conway an, in dem anhand einer Ausgangskonstellation und einiger elementarer Spielregeln Aufstieg, Zerfall und Veränderung von Populationen lebender Organismen simuliert werden können. Welche Namen allerdings welcher Kreatur zugeordnet werden, darüber gibt die Partitur keine Auskunft. Denn das künstliche Biotop erschließt sich dem Hören ohne Arbeitstitel.

 

Die post-production des Klanges durch den Komponisten tut ein Übriges, um die Grenzen zwischen Synthetischem und Natürlichem in Frage zu stellen. Hier scheint überhaupt der ästhetische Faszinationspunkt berührt: als sinnliche Metapher simulierter Evolution stößt Winklers Musik ein Spiel eigener Art an, das sich den kategorialen Markierungen der Naturwissenschaften entzieht. Der Titel Gullinkambi (zu deutsch "Goldkamm") erzeugt einen zusätzlichen, mythischen Link und mit ihm ein ironisches Moment, in dem bekanntlich der wahre Ernst liegen kann. Denn Gullinkambi ist in der nordischen Mythologie ein Hahn, der mit seinem Krähen den Göttern das Weltende (Rangnarök) ankündigt. Wieviel Apokalyptisches man darin hört, dass diese evolutionäre Musik mit einem fulminanten Hahnenschrei beginnt, oder ob man in der Wiederkehr dieser Kreatur (bzw. ihrer Artverwandten) am Ende des Stückes eher ein zyklisches Moment erkennt, liegt wohl ganz bei den natürlichen Lebewesen, die wir jargonhaft Rezipienten nennen.

 

 

Aus dem Programmhefttext (1995):

 

Gullinkambi (zu deutsch "Goldkamm") ist in der altnordischen Mythologie ein Hahn, der mit seinem Krähen den Göttern das Weltende (Rangnarök) verkündet. Wie immer, wenn ich solcherlei Titel verwende, hat dieser nur eine relativ lose und oft ironisch auf eine Äußerlichkeit des Stücks anspielende Beziehung zur Musik. So beginnt Gullinkambi beispielsweise mit einem kreischenden Klang, der bei richtiger Ausführung an das Krähen eines Hahnes erinnert. Der Schluss des diesem "Kikeriki" folgenden Stücks führt in eine quasi "stotternde" Struktur mit gelegentlichen "Zwischenschreien", die nicht unabsichtlich ein wenig an ein gackerndes Huhn erinnert.

 

Außermusikalisch gab es neben dem erwähnten Spiel von James Conway und ähnlichen Computersimulationen von Formen der Selbstorganisation in der Biologie vor allem zwei weitere Anregungen: meine Begeisterung für Niklas Luhmanns systemtheoretische Betrachtungen zur Gesellschaft sowie die verblüffenden Experimentalfilme des polnisch-amerikanischen Regisseurs Zbigniew Rybczinsky, die sich dem Problem der Wahrnehmung gleichzeitig, aber verschieden schnell ablaufender Prozesse sehr humorvoll nähern.

 

Meine Überlegungen zur Form und Struktur gingen in zwei Richtungen.

Zum einen beschäftigten mich Strategien, jene von mir bisher favorisierte Art der Formbildung zu vermeiden, die sich durch eine (mehr oder weniger raffiniert verschachtelte) Abfolge von Teilen bildet, also durch relativ deutlich voneinander unterscheidbare Abschnitte; eine Form, die mithilfe von Wiederholungen, Variationen und Gegensätzen die ideale Balance zwischen Gedankenfülle und angestrebter Geschlossenheit herstellt. Sinnt man über Möglichkeiten einer musikalischen Form als Prozeß, gewissermaßen als Wachstumsvorgang, nach, fällt einem natürlich rasch minimal music ein, deren Eindimensionalität und oft einfältige Repetitivität ich aber unbedingt vermeiden wollte. Ich wollte eine Art künstliche Lebenswelt schaffen und erfand also eine ganze Reihe musikalischer Modelle, "Kreaturen", denen eine gewisse dynamische Potenz innewohnt, und die ich dann sozusagen "aufeinander losgelassen" habe. Da gibt es erfolgreiche und nicht überlebensfähige Species; Arten, die sich epidemisch ausbreiten und andere, die sich nicht durchsetzen können; auch solche, die unter dem Einfluß einer benachbarten Gruppe mutieren bzw. eine Metamorphose durchmachen. Manche Arten zeugen in ihrem Zusammentreffen neue Arten, andere sterben an Überbevölkerung... Dies alles hörbar zu machen (wenn auch vielleicht nicht in allen Fällen beim ersten Mal, so doch bei genauerem Hinhören), dies alles akustisch nachvollziehbar zu machen, dahin ging mein Bemühen. Dieses Musikstück sei ein akustischer Organismus. Mag sich dies alles auch etwas angestrengt biologisch anhören, so bin ich doch ziemlich zuversichtlich, dass das Stück selbst dennoch wie spannende Musik klingt und nicht wie ein Retortenexperiment.

 

Zum andern haben mich Gedanken zu den Möglichkeiten musikalischer Komplexität beschäftigt. Wie schon in Bezug auf die minimal music angedeutet, stört mich an vieler zeitgenössischer Musik ihre strukturelle Einschichtigkeit: die Tatsache, dass in der Regel nur eine einzige Ebene musikalischen Geschehens wahrnehmbar ist. Manchmal, wie bei Ives, um ein klassischeres Beispiel zu nennen, hat man zwar mehrere Schichten, doch bewegen diese sich eigentlich beziehungslos nebeneinander her. Mir jedoch ging es nicht um bloßes layering, d.h. das Übereindertürmen von untereinander beziehungslosen Schichten. So sann ich über alternative Konzepte sinnvoller Komplexität nach — im Grunde natürlich eine uralte Fragestellung (Kontrapunkt), auf die ich meine persönliche zeitgemäße Antwort suchte. Mit sinnvoller Komplexität meine ich die hörbar nachvollziehbare Spannung zwischen Autonomie und Interaktion verschiedener gleichzeitig ablaufender Vorgänge, die interne Konsequenz jeder einzelnen der simultanen Sukzessivitäten sowie die Vielgestaltigkeit der Beziehungen derselben zueinander.

 

Nun hoffe ich, dass Sie ein wenig Spaß beim Beobachten meines kleinen Flohzirkus' haben werden, beim Verfolgen des Lebens und Sterbens all der kleinen Tierchen und Pflänzchen, die in den elf Minuten von Gullinkambi vor Ihren Ohren gedeihen und verderben werden.