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nine!

für neun Instrumentalisten   1988               Besetzung: Fl.Kl.Hrn – Pf.E-Git.Sz(1Sp) – Vn.Va.Kb   ~13’

 

 

text

   

Noch spielen die Jagdhunde im Hof, aber das Wild entgeht ihnen nicht, so sehr es jetzt schon durch die Wälder jagt.

Franz Kafka

(Franz Kafka: Das erzählerische Werk. — Berlin: Rütten&Loening, 1983. — S. 377)

 

 

Sie gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht. …

Rittlings über dem Grabe und eine schwere Geburt. Aus der Tiefe der Grube legt der Totengräber träumerisch die Zangen an. Man hat genug Zeit um alt zu werden. Die Luft ist voll von unseren Schreien. Aber die Gewohnheit ist eine mächtige Sordine.

Samuel Beckett

(aus: Warten auf Godot. — Frankfurt: Suhrkamp, 1971. — S. 221&377)

 

 

Uraufgeführt unter dem Titel weiter, weiter…, ist dieses Stück Ausdruck eines brennenden Unbehagens; eines von der Unerträglichkeit und Trostlosigkeit unüberbrückbarer Widersprüche entzündeten und immer weiter befeuerten Unbehagens.
Versöhnung wird kaum gesucht und nicht gefunden. Die noch einigermaßen gemäßigten Gegensätze des Anfangs driften im Verlauf des Geschehens unaufhaltsam auseinander: hastiges und beinahe gedankenloses Voranstürmen kollabiert immer wieder — nur um in lähmende Starre zu münden. In immer gedrängterem Wechsel wirft sich das Ensemble von einem Extrem ins andere.
Nur an einer Stelle keimt plötzlich (und letztlich folgenlos) die Andeutung einer Alternative. Es ist dies das Zwiegespräch einer kammermusikalisch eher unergiebigen Konstellation: zwischen Horn und Gitarre. Ein zum Scheitern verurteilter Dialog als zarte Pflanze der Hoffnung, die unvermeidlich überrollt wird von einer der Schimäre der Konsequenz hinterherjagenden und so zwischen brachialem und lethargischem Stumpfsinn hin und her geworfenen Welt.

 

 

Uraufführung: 1.3.1989, Berlin, KNM Berlin | James Clarke, weitere Auff. u.a. in Potsdam, Leipzig, Amsterdam (Ensemble Avantgarde) und Berlin (unitedberlin) | Preis des Geraer Ferienkurses für Neue Musik 1989

 

Aus einem Text zur Uraufführung (1988):

 

Dieses Stück verzichtet bewusst auf Entwicklung im Sinne eines sich aus Keimen entwickelnden, hörbar nachvollziehbaren Heranwachsens, mag es sie auch gelegentlich vortäuschen oder persiflieren. Es gibt hier lediglich ein Anwachsen nach dem Prinzip strukturellen Verdichtens oder besser: Anhäufens; jedoch geschieht dies nicht aus sich selbst, etwa, weil z.B. das Material motivisch entwickelt würde.

Die Musiker spielen in diesem Werk entweder aneinander vorbei — dabei manchmal durchaus Individualität vortäuschend — oder gehen in lethargischem Dahinströmen auf.

 

An dieser Stelle ein paar erläuternde Worte zur Kompositionstechnik:

 

Ausgehend von einem symmetrischen siebentönigen Akkord (Akkord I) wurde durch Zusammenlegung der Töne in eine Oktave ein symmetrischer Modus entwickelt:

NINE! Skala (Modussegment)        NINE! Skaladerivat
1 Halbtonschritt | 2 Halbtonschritte | 1 Halbtonschritt
— dazwischen jeweils ein „Fehlton“

Entwirft man nach identischem Modell einen „Fehltonmodus“ mit Trennung durch die Dreitongruppe, ergibt sich:

NINE! Skala (Fehltöne)

||| 1 Fehlton || 2 Fehltöne || 1 Fehlton |||
— dazwischen je ein Halbtonschritt

So haben wir einen Modus gewonnen, der — in seiner Eigenschaft als nicht-oktavierender Modus mit Bezugssystem der großen Septime (11 Halbtonschritte) — erst in der 13. Oktave wieder vom gleichen Anfangston beginnt.
Er lässt sich genau zehn Mal transponieren (ein im Messiaenschen Sinne „begrenzt transponierbarer Modus“); und dies sind die 11 Transpositionen:

NINE! Skala (Transpositionen)



Der siebentönige Ausgangsakkord (s.o.) erscheint als erster Akkord von T. 62 bis 71, sowie als farblich changierender Hintergrund im zentralen Abschnitt des Stückes, dem „Intermezzo“ zwischen Horn und Gitarre von T. 129 bis 146.
In T. 72 wird dieser Akkord in einen weiteren symmetrischen Akkord umgebrochen: den elftönigen Akkord II:
NINE! Akkord II

Von T. 102 bis 106 erscheint ein dritter symmetrischer Akkord (A. III), der durch das Hinzufügen der SymmetrieachseNINE! Achsenviertelton,

die im vierteltönigen Spannungsverhältnis sowohl zum höchsten als auch zum tiefsten Ton des Akkords steht, zum dreizehntönigen Akkord wird:
NINE! Akkord III

Aus diesem wurde eine (ebenfalls symmetrische) Zwölftonreihe abgeleitet, indem der Akkord sozusagen von unten nach oben abgetastet wurde — wobei der Achsenton fortfiel. Sie besteht ausschließlich aus den drei in diesem Stück deutlich vorherrschenden Intervallen Großterz (A), Quinte (B) und kleiner Septime (C).
NINE! erste Zwölftonreihe
Sinnentsprechend wurde aus dem Akkord II eine zweite Zwölftonreihe abgeleitet:
NINE! zweite Zwölftonreihe
In beiden Reihen entfällt natürlich aufgrund der Symmetrie der Unterschied zwischen Spiegel und Krebs sowie zwischen Original und Spiegelkrebs, womit es nur je zwei Erscheinungsformen gibt.

Ein letzter symmetrischer Akkord (A. IV) will sich von T.179 bis 182 aufbauen: quasi ein Modussegment unter Wegfall der beiden Außentöne:
NINE! Akkord IV

 

 

 

 

 

 

 

Eine Partiturseite:

 

 

NINE! Partiturseite