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für Orchester

  2005  

Besetzung: 2.3.3.2 – 4.2.3.1 –

Pk.2Sz – Str (14.14.12.10.8)

   ~23'

 

text

 

 

Habakuk Traber — Auszug aus dem Programmhefttext zur Uraufführung von Von der Natur des Menschen. (2005):

 

In seinem neuen, seinem dritten Orchesterwerk verwandelt Stephan Winkler Sprache fast unmittelbar in Musik; die Musik wird ihrerseits im buchstäblichen Sinn zur Klangrede.

Der zweite Satz seines Werkes, "Condition" überschrieben, entstand aus einem Gespräch, das die Philosophen Noam Chomsky und Michel Foucault 1971 in Eindhoven führten. Jeder redete dabei in seiner Muttersprache, Chomsky in amerikanisch gefärbtem Englisch, Foucault französisch. Es ging den Diskutanten um die "conditio humana", um Grund, Sinn und Zukunft für die gesellschaftliche Existenz der Menschheit (die sich nicht zwingend mit der physischen Existenz von Menschen deckt). Den Abschnitt, den Stephan Winkler auswählte, begann Chomsky mit der Feststellung, "dass ein grundlegender Bestandteil der menschlichen Natur im Bedürfnis nach kreativer Tätigkeit, nach kreativem Forschen und freier Schöpfung besteht".

Winkler richtete sein kreatives Forschen auf die Musikalität der Sprache, anders gesagt: auf den kommunikativen Sinn, den einer erfährt, der nicht den Wortbedeutungen nachhört. Winkler versuchte nicht, den Inhalt des Gesprächs musikalisch zu umhüllen oder gar "wiederzugeben". Das wäre so unmöglich wie unsinnig. Er übersetzte die gesprochene Sprache in Musik, ihre Melodie, ihren Rhythmus, ihr Klanggefälle. Dazu bedurfte es bestimmter Codes. Das Grundtempo der Musik ist langsamer als das der Sprache, die Proportionen des Redeflusses ließ Winkler jedoch unangestastet, keine (Denk-)Pause wurde verkürzt, keine Denk-Silbe gelöscht, kein flüchtiger Laut verlängert. Die Reden wurden so in ein metrisches System eingefügt, dass betonte Silben auf schwere, unbetonte auf leichte Taktteile fallen. Erstaunlich, welch strikter und zugleich vielfältiger Rhythmus in der unmittelbaren sprachlichen Äußerung der Diskutanten lag. Den Tonhöhenverlauf der Reden notierte Winkler exakt nach und projizierte ihn auf Skalen, die von den herkömmlichen abweichen, weil sich ihre Tonfolgen nicht im Oktavabstand wiederholen. Sie dienen in der gesamten Komposition als eine Art Strukturgitter. Das starke dynamische Gefälle des Sprechens formte der Komponist durch Klangstrukturen nach: Leisen Silben entspricht ein Ton, lauten dagegen Akkorde von unterschiedlicher Dichte und Attacke.

Die gegensätzlichen Stimmtimbres übersetzte er in unterschiedliche Instrumentenkombinationen. Chomsky ordnete er die "weichen" Bläser und die "äußeren" Streicher (Erste Violinen, Celli, Kontrabässe), Foucault die schärferen Blasinstrumente, die mittleren Streicher und die Pauken zu. Das Schlagzeug fungiert als eine Art Rückgrat des Gesamtverlaufs. Was Sprache war, wird Musik durch die Vergrößerung in Raum und Zeit.

Hätte Winkler nicht eine so klare, wohl organisierte Handschrift, man könnte seine musikalische Notation des Philosophengesprächs mit den Skizzenbüchern vergleichen, in die Leos Janáček Sprechmelodien aus dem Alltag eintrug, um aus ihnen das Rohmaterial für die Komposition seiner großen Opern zu gewinnen. Die Übertragung von Gehörtem auf bestimmte Muster der Tonhöhenorganisation gleicht Messiaens Übersetzung von Naturlauten in organisierte Partituren. Insgesamt verwirklichte Winkler ein Ideal, das Komponisten spätestens seit Robert Schumann immer wieder bewegte: eine musikalisch selbstredende Prosa zu schaffen. Er brachte also drei Methoden und Anliegen zusammen, die in Geschichte der Moderne eine unterschätzte Rolle spielten, weil sie keine "Schule" machten und nach der Ausarbeitung durch einen Komponisten von anderen nicht oder kaum mehr weitergeführt wurden.

Hinter der Gesprächsebene des zweiten Satzes scheint immer wieder eine zweite Schicht wie eine Folie durch. Ihre Struktur ist durch weite Linien geprägt, die den ganzen Tonraum durchgleiten, durch melodische Riesenbögen, die jedoch in ihrer dynamischen Präsenz auf Distanz gehalten werden. Sie erinnern an die Glissandi, die den kürzeren ersten Satz bestimmten. Sein Titel "Air" kann beides bedeuten: Luft und Arie. Mit der Beschleunigung der auf und ab gleitenden Bewegungen, die teilweise durch mehrere Instrumente führen, gewinnt das Werk allmählich seinen Atem, das Zeitmaß für den zweiten Satz. Linienzüge zeichnen Bruchstücke des Gesanglichen in den großen Puls des Eröffnungsstücks. Sie deuten die Hauptsubstanz des zweiten Satzes an.

So sind die beiden unterschiedlich langen Sätze nicht nur als Prélude und Hauptstück aufeinander bezogen, sondern durch Reminiszenzen und Vorschein miteinander verschränkt. Ausgehend vom Surrealismus – das ist die Kunst, die den Realismus auch an Genauigkeit übertrifft – schrieb Peter Sloterdijk in seinem Essay "Air / Condition", "dass das Hauptinteresse der Gegenwart der Explikation der Kultur gelten muss mit dem Ziel, schöpferische Prozesse explizit zu machen". Solches Aufrollen der "conditio humana" aber geschieht so, wie Stephan Winklers Werk endet: fragend.