vorheriges werk nächstes werk



XENOPHONIX

dance party adventure in 47 Pfaden

für Zuspiel, elf Live-Musiker, multiple Videoprojektionen u.a.

  1996/97   Besetzung (live Musiker): Fl.2Ob(1.a.Eh).Kl.Sax – Pos – Frauenstimme – EGit./Bgit. – Vn.Va.Kb – backing ensemble   ~247’

 

 

•BILD

 

 

•DETAILS

 

TEXT

 

 

Ein buntes Gefieder hat der Hahn des Asklep.

Jeder Genuss lebt durch den Geist. Und jedes Abenteuer durch die Nähe des Todes, den es umkreist.

Ernst Jünger in: Schädel und Riffe

 

 

Retrospektive Anmerkungen zum Vorhaben und seiner Realisation (2009):

 

Der Beginn der letzten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts war in vieler Hinsicht eine bemerkenswerte Zeit für Berlin. Neben den offensichtlichen (und derzeit in aller Ausführlichkeit rekapitulierten) gesellschaftlichen Umwälzungen in Folge des Ostblock-Kollaps', konnte man unzweifelhaft auch einen aufregenden künstlerischen Innovationsschub verzeichnen. Vielleicht zum ersten Mal nach fast siebzig Jahren spielte Berlin auch auf musikalischem Sektor wieder eine international zur Kenntnis genommene Vorreiterrolle.

Freilich nicht unbedingt auf jener kleinen, durchaus liebenswürdigen Insel des Musiklebens, die sich selbst quasi als institutionalisierte Permanente Avantgarde versteht. Das atemberaubend Neue fand vor allem auf dem Sektor der Elektronischen Tanzmusik statt, für welche die (wie gewöhnlich wenig kenntnisreichen und an Differenzierung desinteressierten) deutschen Medien schnell den Sammel- und Schmähbegriff Techno aufgriffen.

Da auch die Popmusikhistorie — wie jede Geschichtsschreibung —  eine von engagierten Interessenten verfasste allzu einseitige Darstellung zu erfahren droht, möchte ich an dieser Stelle einige Aspekte benennen, die meinen Enthusiasmus für das damalige vibrierende (Tanz-)Musikleben Berlins entzündeten.

 

Es begann mit (so nannte man's halt) Parties in Kellern, ganzen Hinterhäusern abbruchreifer Blocks, in Wohnungen, ehemaligen Friseursalons bzw. öffentlichen Toiletten, die oft nur wenige Male und in unregelmäßigen Abständen bespielt wurden. Die interessanteren unter den DJs verfolgten damals eine erfolgreiche Strategie zur Verhinderung medienhypetauglichen Starkults: sie traten ständig unter andern Pseudonymen auf. So wohnte dem ganzen Geschehen lokal wie personell etwas durchaus Nomadisches inne. Weit davon entfernt die damals aufgelegte Musik generell und unkritisch glorifizieren zu wollen, gab es immer wieder dennoch ganz unverkennbar Anspruchsvolles und Ambitioniertes zu entdecken.

Eine wesentliche Voraussetzung dafür, solches überhaupt bemerken zu können, war die Tatsache, dass die Situation in den nur von Scannerblitzen erleuchteten Clubs das Tanzen selbst von einer Reihe lästiger sozialer Aspekte befreite und so ein konzentriertes Hören ermöglichte, wie es vorher in diesem Zusammenhang kaum denkbar war. (Nicht zuletzt war es endlich möglich, so individuell und wild zu tanzen wie es einem behagte, ohne Sorge vor scheelen Blicken und herablassendem Gehabe.) In diesem Umfeld konnte man sich auf eine beim Tanzen bis dahin unbekannte Weise auf die unmittelbare musikalische Erfahrung konzentrieren — auf die oft erstaunlich komplexen rhythmischen Strukturen, auf subtile klangfarbliche Modifikationen, auf gewagte stilistische Synthesen in der Musik…

Als Komponist, der es immer als Manko der Gegenwärtigen Europäischen Kunstmusik empfand, dass sie ihre Ansprüche an strukturelle und intellektuelle Vielschichtigkeit äußerts selten in einer Weise zu verwirklichen vermochte, die sich dem Gedanken des (im eigentlichen Sinne) Rhythmischen nicht verschließt, machte ich die Entdeckung von ein paar überraschenden Parallelen in den aktuellen Entwicklungen zeitgenössischer Musik in beiden Sektoren. Genannt sei hier beipielhaft die Konzentration auf Strukturen und Klangfarben — bei gleichzeitiger bewusster Vernachlässigung als traditionell empfundener Aspekte des Musikmachens wie die schlichte hierarchische Trennung funktionaler Ebenen (Melodie/Begleitung) oder die ungefilterte Adaption konventioneller Harmonik.

In früher Jugend geprägt vom sozialen Umfeld der sich selbst so bezeichnenden Neuen Musik, habe ich einen Pfeiler ihres Selbstverständnisses immer uneingeschränkt befürwortet — und möglicherweise gar als ihre eigentliche raison d'être betrachtet: die Forderung nach dem (durchaus auch gewagt) Experimentellen. Mit zunehmenden Jahren keineswegs halbherziger Zugehörigkeit zur Szene ließen sich allerdings einige ernüchternde Beobachtungen machen, die unmissverständlich vor Augen führten, dass die Ergebnisse dieser Experimente sich ausschließlich in einem recht eng umgrenzten Rahmen anzusiedeln hatten. (Welchen Anteil daran vorauseilender Gehorsam der Komponisten hat, bin ich nicht imstande zu beurteilen.)

Jedenfalls wusste ich genau, worauf ich mich einließ, als ich beschloss, meine umfangreichen (stellenweise ausschweifend ausgedehnten) Erfahrungen mit dem oben beschriebenen lebendigen musikalischen Geschehen Berlins nicht spurlos an meinem Werk vorübergehen zu lassen und über die Möglichkeit nachzusinnen, einen Abend zu komponieren, der auf allen Ebenen anspruchsvoll durchgearbeitet, vielschichtig und konzentriert hörens- und sehenswert und dennoch sinnlich genug (bei allem Bauchschmerz mit dieser Vokabel) wäre, das Auditorium zum Tanzen zu bringen. (Und aus etlichen traurigen Erfahrungen mit gähnenden Tanzflächen wusste ich genau, dass dies einem DJ keineswegs geschenkt wird.) So verblüfften die Reaktionen in der Neue-Musik-Welt höchstens durch ihre präzise Vorhersagbarkeit. Nicht nur aus diesem Grund gilt es den Mut der auftraggebenden Festivaldirektorin Heike Hoffmann zu loben, die sich sehenden Auges auf dieses Risiko einließ und die Courage besaß, ein wirkliches Wagnis mit offenem Ausgang zu unterstützen. Dass das mir als Komponist Gegenwärtiger Europäischer Kunstmusik besonders verwegen erscheinende Ziel, die anwesenden etwa 900 Gäste für vier Stunden zum Tanzen zu bewegen, erreicht wurde, empfand ich als wesentlichen Erfolg. (Im übrigen will ich nicht unerwähnt lassen, dass sich das erwähnte soziale Feld inzwischen dennoch merklich geöffnet hat und die Reaktionen auf XenophoniX heute selbst in dem nach wie vor von gewissen wenigen Wortführern, i.e. als Rundfunkangestellte auf Berufslebenszeit festangestellte Festivalmacher, geprägten Deutschen Neue-Musik-Feld sicherlich weniger knorrig ausfielen als zur Zeit seiner Uraufführung.)

Ein weiterer Aspekt, den ich in diesem Werk zu einer meine Ansprüche an die kontrapunktische Verwebung der Ebenen befriedigenden Lösung führen wollte, setzte sich kritisch mit dem Einsatz visueller Medien in Clubs auseinander.
Allzu leichtfertig (billig, im ursprünglichen Sinne des Wortes) wurden leider auch in den besten Clubs und auf den musikalisch interessanten Parties die sogenannten Visuals eingesetzt. Das betont beliebige, zur Musik in keinerlei Verhältnis stehende Projizieren altertümlich verfärbter Homevideos, miserabler Computergraphik oder wahllos zusammengeschnippelter Spielfilmsequenzchen in Endlosloops empfand ich immer als unangemessen dürftige Lösung einer an sich hochinteressanten Fragestellung. So war es mir eine große Freude, den damals noch blutjungen Videoartisten Jesko Marx damit beauftragen zu können, ein der Struktur der Komposition von XenophoniX angemessenes animiertes Video zu schaffen, das über die gesamten 47 ineinander übergehende Stücke (hier Pfade genannt), mit der Musik tatsächlich in erkennbar duettierender wie kontrapunktierender Beziehung stehende Projektionen ermöglichte. Anja Kleinmichel, damals Kunststudentin in Leipzig, schuf große visuelle Objekte für den Raum, die mit den Videos von Jesko Marx korrespondierten.

Noch einige wenige Worte zur Musik: ein mich in meiner Arbeit immer wieder beschäftigendes Thema ist das Verwischen und Unkenntlichmachen der Grenze zwischen dem Synthetischen und dem Natürlichen, dem Vorproduzierten und dem live Dargebotenen. Naheliegenderweise war der erste bezahlbare Sampler mein erstes und prägendes elektronisches Musikinstrument. So lag mir auch von den ersten Skizzen zu XenophoniX an daran, eine möglichst große Verschmelzung des klanglichen Erscheinungsbilds der 47 vorproduzierten Tracks mit der gleichzeitig entstandenen Partitur für das Kammerensemble Neue Musik Berlin zu erzielen. Mein Wunsch, die Musiker in einer Art gläsernen Terrariums auftreten zu lassen, scheiterte leider an den strengen deutschen Reglements für Veranstaltungssicherheit. Mein Anliegen war es, auch auf diese Weise deutlich zu machen, dass es sich bei dem Live-Anteil der Musik um einen integralen Bestandteil des musikalischen Geschehens handelt und nicht um auffällig in den Vordergrund tretende Solistenindividualitäten. Leider ließ sich der geplante Mitschnitt der live dargebotenen Partitur zu XenophoniX nicht verwirklichen, weshalb auf diesen Seiten auch ausschließlich die voproduzierten Zuspiele anzuhören sind, was natürlich eine gewisse Reduktion der kompositorischen Dichte zur Folge hat. In gewisser Hinsicht ist dies aber auch konsequent: schließlich war XenophoniX von Anfang an als ein einmaliges Ereignis angelegt und bezog seinen Charme zum Teil sicher auch aus diesem Aspekt der Unwiederholbarkeit. Dennoch ist es meine Überzeugung, dass auch die hier anhörbaren vorproduzierten Tracks einen gewissen Einblick in das Werk zu geben vermögen.

 

 

 

Aus dem Ankündigungstext des KNM Berlin zu XenophoniX (1997):

 

XenophoniX ist die Vision eines ganz und gar synthetischen Events.

Vier Stunden Dancefloor mit klassischen Live-Musikern, ein vierstündiges Videowerk, welches präzise zur Musik produziert ist, phosphoreszierende Objekte an den schwarz verhüllten Wänden und im ganzen Raum und etliches mehr treffen in einer Art artifizieller Entertainment-Mall aufeinander und reagieren zu einem rauschhaften Ganzen, das vor allem eines sein soll: ein sinnlich betörendes Ereignis. Mit der Experimentierfreude der Alchemisten und der Waghalsigkeit eines außer Kontrolle geratenen Genlabors wird alles gepaart, gekreuzt, vermischt, ineinandergegossen, miteinander konfrontiert, verschmolzen, was zwischen Party und Konzert denkbar ist.

XenophoniX ist in jeder Hinsicht ein Bastard, dessen musikalische Erbanlagen nicht nur aus der Space-Age-Euphoria und der ausgeglühten Ästhetik neuer deutscher Kammermusik stammen. Ein Live-Konzert des Kammerensembles Neue Musik Berlin mit vier Stunden non stop tanzbarer Musik — ein Konzert als Clubnacht, eine Danceparty  als vielschichtiges Konzertereignis, für Fans des von der Bassdrum in Vibration versetzten Zwerchfells ebenso reizvoll wie für Apologeten distinguiert-analytischen Hörens.

Alles wurde speziell für diesen Abend produziert: die siebenundvierzig Tracks ebenso wie die Videosequenzen; die vierstündige Partitur, ebenso wie die Objekte... Alles wird in dieser Form nur an diesem Abend an diesem Ort zu erleben sein!

XenophoniX — ein nächtlicher Clash aus Klang, Licht und Bewegung: ein ekstatisches Ereignis.

 

 

 

das vierseitige Abendblatt (u.a. mit den Namen aller Mitwirkenden)  •ALS PDF

 

 

ˆTEXT

•DETAILS

 

 

•BILD